totale Bürokratie

•January 12, 2009 • Leave a Comment

Ist die Bürokratisierung der Welt unser unausweichliches Schicksal? Oder gibt es, so wie es historische Bedingungen für ihre Ausbildung gab, heute die Voraussetzungen für ihre Auflösung?

Dieses ist die Geschichte der Bürokratie:

I. Die Ursprünge

II. Stalins Konterrevolution

III. Zwischen Elbe und Oder: das realexistierende feudalbürokratische Vergeudungs-und Verknappungssystem

IV. Der Untergang der Linken

Totale Bürokratie I: Die Ursprünge

Die bürgerliche Welt ächzt unter dem Bleigewicht öffentlicher und privater Verwaltungen. Ist Bürokratisierung, wie Max Weber meinte, das unausweichliche Schicksal moderner, rationalisierter Gesellschaften?

Die Bürokratisierung der Welt

Die Klage über die Bürokratie begann mit der Romantik: Das “Fabrikmäßige” der (damals) modernen Staatsgebilde wurde mit den vermeintlich seelenvolleren ‘persönlichen’ Verhält- nissen der Feudalzeit verglichen und natürlich für zu leicht, nein: für zu schwer befunden. Und in E.T.A. Hoffmanns “Goldenem Topf” ist der öffentlich Bedienstete geradezu der Inbegriff des Philisters.

Max Webers Urteil über die “Rationalität” bürokratischer Herrschaft sticht dagegen merkwürdig ab. Ist jedes Mal dasselbe gemeint, wenn der eine oder der andere von Bürokratie redet? Immerhin spielen viele Bedeutungsnuancen hinein, vom Obrigkeitsstaat über die industrielle Arbeitsteilung und Schwindel erregende Hierarchien bis zum Informationsverlust auf zu langen Wegen. Tatsächlich hat das Phänomen der Bürokratisierung der modernen Welt mannigfaltige Quellen.

Obrigkeitsstaat

Die staatlichen Bürokratien sind in den (kontinental) europäischen Ländern ein Erbe des Obrigkeitsstaats. Die absoluten Monarchien waren aus den feudalaristokratischen Königtümern hervorgegangen, indem sich die Krone in ihrem Machtkampf mit dem Hochadel auf das (steuerzahlende) Bürgertum stützte. Ludwig XIV., Vorbild aller Allein- herrscher, fesselte die gesamte französische Aristokratie an seinem Hofstaat zu Versailles und zog sie damit zugleich aus der politischen Verwaltung seines Reiches ab. Die frei werdenden obrigkeitlichen Ämter konnte er den meistbietenden Bürgerlichen feilbieten, die er damit unmittelbar den Interessen der Krone dienstbar machte.

Seit ihrem Entstehen erfüllt die staatliche Bürokratie über ihre behördliche Funktion hinaus auch eine gesellschaftspolitische Aufgabe: die aufstrebenden Elemente der unteren Klassen an die bestehende Ordnung zu binden. Zugleich bildet sie ein besonderes Sozialcorps mit eigenen Standesinteressen, die nicht mit denen des Souveräns identisch sind.

Die Kontrolle der behördli- chen Machtausübung durch den Souverän ist offenbar das Schlüsselproblem. Nur seinen Interessen sollen sie dienen, und sofern in einem demokratischen Staatswesen das Interesse des Souveräns kein anderes ist als das Interesse aller Bürger, kann die bürokratische Herrschaft als ‘rational’ gelten – vorausgesetzt freilich, sie unterliegt der öffentlichen Kontrolle ihres Souveräns.

Eines muss ohne Zorn und Eifer eingesehen werden: Wer eine öffentlich kontrollierbare Behörde will, muss ein Mindestmaß an Bürokratismus immer in Kauf nehmen. Denn nur, wenn obrigkeitliche Entscheidungen säuberlich in ‘Vorgänge’ zergliedert werden, die ihrerseits jeweiligen ‘Stellen’ zugeordnet sind, lassen sich die Entscheidungsgänge nachträglich rekonstruieren und vor Gericht anfechten. Es gibt keinen Rechtsstaat ohne einen Grundbestand von Bürokratie. Wo dieses Minimum endet und der Missbrauch beginnt, ist im Einzelfall immer strittig, und sicher ist es nicht die Bürokratie selbst, die hier zum Richter berufen ist.

Industrielle Arbeitsteilung

Und warum gelingt es den Demokratien nicht, die ihnen nach Max Weber so adäquate ‘bürokratische Herrschaftsform’ in rationellen Grenzen zu halten? Weil die bürgerliche Gesellschaft selber, nämlich die industrielle Arbeitsteilung in der mechanischen Fabrik, ein nie versiegender Quell der Bürokratisierung ist.

Wachsende Produktivität, so hatte Adam Smith gelehrt, heißt wachsende Arbeitsteilung; Aufteilung nicht nur der gesellschaftlichen Produktion in verschiedene, nur durch den Austausch einan- der verbundene Zweige, sondern Aufteilung der Fer- tigungsgänge selbst im Innern der Fabrik in ihre einzelnen Sequen- zen, Einsparung eines jeden Handgriffs, der ebenso gut durch die Maschine erledigt werden kann, und Zusammensetzung des Endprodukts Teilchen für Teilchen. ‘Taylorismus’ und Fließband – so hießen am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts die Zukunftslosungen, die bis nach Sowjetrussland klangen.

Jeder Arbeiter ein geschulter Spezialist des einen, für ihn noch übrig bleibenden Handgriffs; und das Ganze zusammengehalten durch den Spezialisten fürs Zusammenhalten, den Organisator, den Planer, den Leiter, den Bürokraten. In einer Produktionsweise, wo alles aufs Analysieren und Vereinzeln ankommt, wird das nachträgliche Vermitteln der Teile schließlich zu einer selbstständigen Aufgabe.

Es blieb nicht aus, dass die rationelle Organisationsform der mechanisierten Fabrik ihrerseits zum Vorbild wurde für eine rationelle staatliche Verwaltung im demokratischen, bürgerlichen Staat. Dies umso sicherer, als es… die Behörde selber ist, die sich für ihre Rationalisierung zuständig macht und bis heute jeden einzelnen Schritt zur ‘Entbürokratisierung’ plant, durchführt und kontrolliert. Und so lange es der Stand der Staatsbediensteten ist, der nicht nur die Verwaltung besorgt, sondern in den Kommunikationswegen der politischen Parteien wie in den Volksvertretungen den Ton angibt! Es ist nur auf dem Papier eine öffentliche Kontrolle. Tatsächlich handelt es sich um eine Geschlossene Gesellschaft.

Wohlfahrtsstaat

Galt dies alles zu Zeiten des liberalen Konkurrenzkapitalismus, so gilt es erst recht unter den organisierten Formen kapitalistischer Herrschaft, die ihren politischen Ausdruck im Wohlfahrtsstaat fanden. Er ist zur gleichen Zeit diesseits und jenseits des Atlantik entstanden, in den USA im New Deal, in Deutschland in der natio nalsozialistischen Volks- gemeinschaft.

Seither hat sich in Europa mehr noch als in Amerika die Ansicht als selbst- verständlich durchgesetzt, dass der Staat selber für das Wohlergehen – hap- piness – seiner Bürger verantwortlich ist, und nicht nur die Chance des freien pursuit of gewährleistet. Je mehr Bereiche des öffentlichen und selbst privaten Lebens behördlicher Fürsorge überantwortet werden, umso tiefer wuchert die Hydra der Bürokratie ins Innere der bürgerlichen Gesellschaft.

Die Arbeiterbewegung selbst kommt dem entgegen. Mit wachsendem Organisationsgrad entwickelt sie selber einen Hang zur Bürokratisierung. Noch der wildeste Streik braucht am Ende Leute mit Geschick, die die günstigsten Bedingungen für die Wiederaufnahme der Arbeit aushandeln. Besser als wilde Streiks sind aber die gut vorbereiteten, besser als zufälliges Geschick ist eine gezielte Bildung. Die Tagesgeschäfte des Klassenkampfs erfordern ihre eigenen Spezialisten.

Am besten Professionelle. Unter denen macht sich an Stelle revolutionärer Ungeduld realpolitischer Reformersinn breit. Der Wohlfahrtsstaat ist eine Resultante des Klassenkampfs. Hier verbinden sich die sozialpolitischen Konzessio- nen, die die Arbeiterbewe- gung der bürgerlichen Herrschaft abringen konnte, mit jenen vorbeugenden Maßnahmen, die seit Bismarcks Sozialgesetzen der Staat selbst ergriff, um dem Klassenkampf seine revolutionäre Spitze abzu- brechen; und es ist im Detail mühsam, eins vom andern zu scheiden.

Nach dem russischen Oktober erwies sich schließlich der Wohlfahrtsstaat als einzig wehrhaftes Bollwerk gegen die permanente Weltrevolution. Aber es hätte kaum ausgereicht, wäre deren Dynamik nicht zuvor in ihrem Innern gebrochen worden. Man versteht weder das New Deal noch die faschistischen Volksgemeinschaften, wenn man sie nicht als Vorder- und Rückseite einer Medaille erkennt. Man versteht weder den Nationalsozialismus noch den Stalinismus, wenn man sie nicht als die Vorder- und die Rückseite derselben Medaille erkennt.

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Lenins bester Text heißt “Staat und Revolution”. Er schrieb ihn wenige Wochen vor dem Oktober. Er handelt davon, wie – nach Marx’ Prognose – nach der Machtergreifung des Proletariats der Staat absterben sollte. Die Diktatur des Proletariats würde vom ersten Tag an daran arbeiten, sich wieder abzuschaffen.

Es ist dann anders gekommen.

In der Theorie hatte es nahe gelegen, dass die Arbeiterklasse zuerst in dem Land an die Macht kommt, wo sie durch die industrielle Entwicklung zahlenmäßig am stärksten und am dichtesten organisiert ist. In diesem Land wird freilich auch die Bourgeoisie stark und wohl organisiert sein. Konnte unter Umständen die Arbeiterklasse zuerst in einem Land siegen, wo die Bourgeoisie besonders schwach, aber die Arbeiter- bewegung trotzdem – relativ – stark war?!

Revolution und Bürgerkrieg

Seit der ersten russischen Revolution von 1905 war das keine rein theoretische Frage. In einem grenzenlosen agrarischen Ozean gab es einige hoch moderne industrielle Inseln, deren Produktivität jedem Vergleich standhielt, und deren blutjunges, traditionsfreies Proletariat konzentrierter und revolutionärer war als im wohlhabenden Westen. Und der russischen Bourgeoisie, eingeklemmt zwischen zarischer Selbstherrschaft und proletarischer Revolution, bangte vor ihrem eigenen Schatten. Tatsächlich hat sie dann 1917 so gut wie keine Rolle gespielt.

Ans Absterben des Staates war freilich nicht zu denken. Nach wenigen Wochen brach ein Bürgerkrieg aus, der im Land verheerender war als der Weltkrieg. Ein Krieg führender Staat stirbt nicht ab. Er geht unter, wenn der verliert, er wird allmächtig, wenn er siegt. Der bolschewisti- sche Staat musste all- mächtig sein: Das Land war völlig desorgani- siert, alle Ordnung auf- gelöst, von der Industrie war neben der Rüst- ungsproduktion nichts übrig geblieben. Der wirtschaftliche Neuauf- bau erforderte an allen Orten: den Staat. Die wenigen hunderte oder tausende Revolutionäre von 1917, die den Bürgerkrieg überlebt hatten, wurden ausnahmslos für administrative Leitungsaufgaben gebraucht. Eine Arbeiterklasse musste sich unter ihrer Initiative überhaupt erst wieder heran bilden.

“Sozialismus in Einem Land” oder permanente Revolution

Die Staatsmacht an sich reißen kann das Proletariat “in Einem Land”; weil eine Staatsmacht ja immer nur in einem Land herrscht. Anders kann auch eine Weltrevolution nicht beginnen. Aber das Kapital herrscht auf einem Weltmarkt. Ein Land, das daraus ausbricht, schneidet sich von den Ressourcen des Erdballs ab. Ist es gar ein wirtschaftlich zurück gebliebenes und noch dazu vom Krieg verwüstetes Land, bedeutet ‘Vergesellschaftung’ zunächst einmal nur die Verallgemeinerung des Mangels. Es gibt keine Reichen mehr, nur noch Arme. Dabei kann es nicht bleiben, weil sonst mit der Streit um das Not- wendige nur “die ganze alte Scheiße”, wie Karl Marx sagte, von vorn beginnt.

Umso mehr, als die starke staatliche Macht, die nun die Produktion neu aufzubauen hat, zugleich auch die Verteilung besorgt. Und das Verteilen ist voller Versu- chung. Wer an der Quelle sitzt, hat ein Privileg. Mit den Privilegien ist es wie mit der Gravitation. Viele widerstehen ihnen, aber nicht alle. Und die eine Seite wird immer größer, die andre immer kleiner. Da helfen keine Moralisierungskampagnen und keine Beschwörung des richtigen Bewusstsein, sondern nur… das Fortschreiten der Revolution in die Welt.

“Der Kommunismus ist empirisch nur als die Tat der herrschenden Völker ‘auf einmal’ und gleichzeitig möglich”, weil er die universelle Produktivkraft und den darauf beruhenden Weltverkehr voraussetzt, hieß es bei Karl Marx. Na ja, vielleicht nicht am selben Tag, aber doch in dem einem und selben fortlaufenden Prozess, mit Rückschlägen zwar, aber ohne Unterbrechung; Revolution “in Permanenz”, wie Marx zu präzisieren nicht vergaß.

Welche Politik?

Doch permanent ist die Revolution nicht von alleine; man muss es wollen. Die revolutionäre Krise nach dem Ersten Weltkrieg war erst 1923 einer kurzen Stabilisierung gewichen. Und prompt ergriff in Sowjetrussland die Fraktion die Macht, die ausdrücklich den “Sozialismus in Einem Land” zu ihrem Programm erklärte. Es war die Fraktion der ermüdeten alten Revolutionäre und der habgierigen jungen Bürokraten. Sie verwandelte die Kommunistische Internationale zu einem Instrument der sowjetischen Diplomatie: Einfluss auf die Innenpolitik der westlichen Länder nehmen, um Druck auf deren Außenpolitik zu üben: ‘Frieden mit der Sowjetmacht’ war die Losung, die Revolution konnte warten.

Hätten, bei einer andern Politik, weitere Revolutionen in Europa siegen und der Sowjetmacht zu Hilfe kommen können? Man weiß es nicht, denn es wurde nicht versucht. Der herrschenden Fraktion wäre es nicht gelegen gekommen; es hätte ihren Sieg untergraben. Die Alternative Stalin oder Trotzki war die Wahl zwischen der bürokratischen Konterrevolution in Russland und der permanenten Revolution in der Welt.

Eines hätte eine andere Politik der deutschen Kommunisten auf jeden Fall verhindern können und verhindern müssen: die Machergreifung des Nationalsozialismus, jenem “letzten Bollwerk gegen den Bolschewismus”, nachdem die parlamentarische Demokratie abgedankt hatte.

Ohne Stalin kein Hitler. Und ohne Hitler kein Stalin: Der Große Terror der dreißiger Jahre und das Auswuchern der bürokratischen Herrschaft zum totalitären Moloch folgten dem nationalsozialistischen Modell. Vom “Zwillingsgestirn Hitler-Stalin” hat Leo Trotzki bitter gesprochen.

Die ganze alte Scheiße?

Viel schlimmer!

Totale Bürokratie III: Zwischen Oder und Elbe

Das feudalbürokratische Vergeudungs- und Verknappungssystem

Man kann Gesellschaftsformen danach unterscheiden, durch welche Institution sie sicherstellen, dass ein Mehrprodukt entsteht, das akkumuliert werden kann und für Fortschritt sorgt.

Im Feudalzeitalter ist es der nur bedingte bäuerliche Besitz am Boden, durch den der Grundherr am Mehrprodukt teilhat und den Bauern zur Steigerung seiner Produktivität drängt. In der bürgerlichen Gesellschaft ist es der Austausch von Kapital und Arbeit, aus dem der akkumulierbare, neues Kapital bildende Mehrwert hervorgeht. Feudaladel und Bourgeoisie haben zu ihrer Zeit zum gesellschaftlichen Fortschritt beigetragen.

Ein parasitärer Auswuchs

Und wie war das mit der Sowjetbürokratie? Unter Stalin entstand eine Schwerindustrie, das ist wahr. Zugleich hat die Terrorherrschaft der Bürokratie – Zwangskollektivierung und Hungersnot, die Große Säuberung und der Gulag, die Zwangsumsiedlung ganzer Völkerschaften – ungezählte Millionen Menschenleben gekostet. Das war nicht zuletzt auch eine gewaltige Vernichtung von Produktivkraft.

Ob die Bürokratie zur Entwicklung der Produktivkräfte beiträgt, ist rein zufällig. Einem ökonomischen Zwang dazu unterliegt sie nicht. Auch sie verschlingt einen Teil des Mehrprodukts. Akkumuliert sie einen andern Teil? Welchen Teil sie verschlingt, das unterliegt keinerlei wirtschaftlichem Mechanismus, es ist rein willkürlich. Es kann auch mehr sein als das Mehrprodukt – sie macht auch vor der Substanz nicht halt, nichts hindert sie daran. Sie zehrt nur. Sie ist ein Parasit.

Der deutsche Stalinismus

Das stalinistische System ist in der sowjetischen Zone Deutschland fix und fertig an die Stelle des national- sozialistischen Totalitarismus getreten. Vor dem Krieg war das sächsisch-thüringische Industrierevier neben dem Ruhrgebiet das zweite wirtschaftliche Herz Deutschlands. Am Ende der DDR konnte davon nicht mehr die Rede sein. Die Bürokratie hatte eine Desakkumulation zu Wege gebracht, Ruinen schaffen ohne Waffen.

Dabei hat nicht einmal das Politbüro geprasst wie ein orientalischer Despot. In Wandlitz war alles von fast bescheidenem kleinbürgerlichen Zuschnitt. Warum also dieser Niedergang?

1. Das Mehrprodukt fiel immer kleiner aus. Ab einem bestimmten Punkt ‘vermittelt’ die Bürokratie nicht mehr die mechanischen Fertigungsprozesse, sondern behindert sie. Sie verfügt über keinen eingebauten Zwang zur Einsparung (wie etwa der Kapitalist, der pleite geht, wenn er zu teuer produziert). Sie verfügt nicht einmal über ein Maß, um die Kosten zu ermitteln: Ohne freien Markt waren die Preise reine Phantasiegebilde von Günter Mittag. Die Produktivität konnte sinken, ohne dass es einer merkte.

2. Die Bürokratie wurde immer zahlreicher. Eine Bürokratie kann auf die Dauer nicht allein durch Terror herrschen. Sie muss sich, wie jede andere Herrschaft, endlich ‘legitimieren’. Der Terror kann für ein Weile durch ständige Beschwörung von Konterrevolution und Kriegsgefahr legitimiert werden. Aber er versetzt die Gesellschaft in Lähmung und Apathie. Auf die Dauer kann sich die Bürokratie nur legitimieren, indem sie ihre Basis erweitert. Indem sie immer mehr Andere an ihren Privilegien teilhaben lässt. Die Korruption – moralisch und materiell – wird zu ihrem allgegenwärtigen Herrschafts- mittel. Am Ende der DDR gab es kaum noch einen, der nicht durch seine Zugehörigkeit zu irgendeinem Kollektiv – “gesellschaftliche Organisation”, Blockpartei, Soliinitiative… – Zugang zu irgendeinem Vorrecht hatte, von dem die Andern ausgeschlossen waren (außer natürlich die “am meisten privilegierten gesellschaftlichen Gruppe”, die Kinder).

Bürokratische Feudalisierung

Zugleich setzt aber das Privileg allgemeine Knappheit voraus. Eine zügige wirtschaftliche Entfaltung, ein allgemeiner Wohlstand hätte die Bedingungen der bürokratischen Herrschaft untergraben. Sie lagen gar nicht im Interesse der “Verantwortlichen”. Da war es nicht nötig, dass sie sich untereinander zu systematischer Verschwendung verschworen hätten; es reichte aus, dass sie sie nicht wirksam bekämpften: Der Bock taugt nicht zum Gärtner.

Die Wege der Privilegierung waren nur zum kleinen Teil regulär und offiziell. In der großen Masse waren sie informell: Einer kennt einen, der wieder einen kennt… “Seilschaften” nannte man das schließlich, eine Hand wusch die andre. Es entstanden Abhängigkeitsverhältnisse in rein persönlichem, gefolgschaftlichen Rahmen, im Schatten der sichtbaren Hierarchien. Die innere Verfassung des bürokratischen Corps nahm schließlich ausgeprägt feudale Züge an.

Selbst das, was man die Besitz- oder Eigentumsverhältnisse nennen könnte, ähnelte einem feudalen Lehens-Verhältnis. Zwischen Parteifunktionären und Betriebsdirektoren bestanden Vasallitäten, die in gegenseitiger Loyalität begründet waren, aber in jedem Fall nur bedingt galten – je nach den Gleichgewichten im bürokratischen Gesamtgefüge.

Die gesellschaftlichen Produktivkräfte hatten gegen Ende der DDR angefangen zu schrumpfen. Schon der Augenschein einer Bahnfahrt durch Leuna und Merseburg machte es deutlich. Ohne die Kredite aus der Bundesrepublik wäre das System schon Jahre vorher zusammen gebrochen.

Der unaufhaltsame Untergang

Es ist wahr, die horrenden Kosten der Hochrüstung haben ihren – aus den genannten Gründen nicht kalkulierbaren – Teil zum Raubbau an der Substanz beigetragen. Aber der Kalte Krieg und sein kleiner Bruder, die Friedliche Koexistenz, waren kein Paletot, den die östlichen Regimes an der Garderobe hätten ablegen können. Sie waren der kümmer- liche, jämmerliche Rest, den Stalins “Sozialismus in Einem Land” von der Weltrevolution schließlich übrig gelassen hat. Aber völlig darauf verzichten konnten sie nicht. Nur unter dem Etikett “Sozialismus” (eingeschränkt durch “real- existierend”) konnte die Bürokratie ihre Herrschaft schlecht und recht legitimieren, sie musste Friedenslager und Siegerseite der Weltgeschichte bleiben bis zum bittern Ende…

Ach, bitter? Manchem Betriebsleiter ist es gar nicht so schwer gefallen, sich vom feudalbürokratischen Bonzen zum kapitalistischen Boss zu mausern, und hätte die Bundes- republik nicht mit der D-Mark auch die Öffentlichkeit nach Ostdeutschland gebracht, wären wir dort Zeugen der selben Art von “ursprünglicher Akkumulation des Kapitals” geworden wie in Boris Jelzins Wildem Osten; na ja, allzu viele (lebende) Zeugen nicht…

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Totale Bürokratie IV, oder Der Untergang der Linken

Historisch hat „links“ mit Caritas und Sorge für die Bedürftigen nichts zu tun. Der Ausdruck stammt aus der Sitzordnung der französischen Abgeordnetenkammer unter der bourbonischen Restauration. Rechts saßen die Vertreter der dynastischen Legitimität, links saßen die, die (noch) der Revolution anhingen. Und so blieb es. Links und rechts definierten sich durch Nähe oder Ferne zur Revolution.

Zur demokratischen zunächst. Dann, mit der Pariser Juni- insurrektion 1848, zur sozialen, „roten“. Hatte sich nicht im Proletariat ein besonderer Stand herangebildet, der schon keiner mehr war, der in sich die Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft darstellte, und dessen partikulare Interessen daher in eins fielen mit dem Freiheitsinteresse „des“ Menschen? Seither datiert das besondere Verhältnis der Linken zur Arbeiterschaft. Aber nicht, weil sie bedürftig, sondern sofern sie revolutionär war. Sofern!

Die (flüchtige) Aktualität der Revolution

Die Aktualität der Revolution war nach der Pariser Kommune die stille, nach dem Oktober 1917 die ausdrückliche Prämisse aller Politik.

Das 20. Jahrhun dert kündigte sich an als „Epoche der Weltrevoluti- on“. Daraus ist dann nichts gewor den. Die Arbeiter- bewegung be- schied sich nach ihrem revolutio- nären Fehlstart in Russland mit dem ihr Nächstliegenden, der Versorgung der dringendsten Not und der Befriedigung unmittelbarer Bedürfnisse.

„Hineinwachsen“ in die Marktwirtschaft, durch die regulierten Kanäle von Gewerkschafts- und Parteiapparaten und eines aufnahmefähigen Öffentlichen Diensts – das war der wirkliche Ausgleich der Klassen- gegensätze, war der real existierende “Sozialismus”.

Mit dem Untergang der Sowjetunion ist das Ende der Weltrevolution dann gewissermaßen auch amtlich geworden. Ob die Degeneration der Arbeitermacht zum feudal- bürokratischen Vergeudungs- und Verknappungssystem der Breschnew und Honecker unvermeidlich war, ist eine Frage für sich. Auf jeden Fall ist der Linken mit der Revolution auch ihr logischer Grund verloren gegangen.

Gemeinsam mit der revolutionären Prämisse entfällt zugleich das privilegierte Verhältnis der Linken zur Arbeiterschaft. Ohne Revolution keine „Bildung des Proletariats zur Klasse“, und ohne diese kein Klassenkampf. Die Interessen der Arbeiter sind ständische Interessen und so gut oder schlecht wie die andern. Bleibt übrig das Intimverhältnis der “Linken” – ab hier mit Gänsefüßchen – zum Öffentlichen Dienst…

Das ideelle Erbe

Wie steht es aber um ihr ideelles Erbe? Hat sie da nichts, woran sie sich klammern kann?

Da ist zunächst der Fortschritt. Den unendlichen Fortschritt unseres Erkennens leugnet keiner. Auch keine ‘Rechte’. Der Fortschritt der Technik ist schon zweifelhafter. Dass man nicht alles soll, was man kann, meint man nicht mehr nur ‘rechts’. Und vollends strittig ist der Fortschritt in unsern Lebensformen. Das aufklärerische Vertrauen in die grenzenlose Perfektibilität des Menschen scheitert nicht daran, dass jene aufgehört hätten, sich zu verändern, sondern daran, dass Vollkommenheit kein bestimmbarer Begriff ist, sondern eine “Idee”. ‘Es gibt’ sie nur als Problem, nicht als Lösung.

Dann die Gerechtigkeit. Gerecht findet es der Erfolgreiche, wenn er die Früchte seines Erfolges selbst verteilt, wie ihm gut dünkt. Der Erfolglose findet es gerecht, wenn er an den Erfolgen der Glücklichen teilhaben kann. Gerechtigkeit ist kein Begriff, sondern eine Idee, und die gibt es nur als Problem und nicht als Lösung.

Und die Freiheit? Die ist gar zum wundesten Punkt der abgestandenen “Linken” geworden. Jeder Fortschritt in Richtung auf Gerechtigkeit in unsern Lebensformen wurde bezahlt mit einer Ausweitung der Eingriffe des Staates in die persönlichen Angelegenheiten seiner Bürger. Und natürlich mit der Ausweitung der Öffentlichen Dienste. Das ist keine Lösung, sondern das Problem! Was von der Linken selig übrig bleibt und nicht abtreten will, ist nicht die Interessen- vertretung der Arbeiterschaft, sondern der Bürokratien.

Das Veralten der Bürokratien

Zum Wesen der Industriegesellschaft gehört die Aufteilung der Menschen in Ausdenker – Unternehmer und Ingenieure – und Ausführer: alle andern, die mangels eigener Produktions- mittel ihre Arbeitskraft an einen Ausdenker verkaufen, der über deren Verwendung verfügt. Dazwischen schiebt sich im Lauf von fast zwei Jahrhunderten die wuchernde Schicht der Vermittler nicht erst in der Öffentlichkeit und ihren Behörden, sondern schon in den Fertigungshallen. Anfangs waren sie produktionstechnisch nötig. Später wurden sie – als Masse – politisch nützlich. Ohne sie hätte die industrielle Zivilisation jedenfalls keinen Bestand gehabt.

Aber wir stehen am Ende der Indu- striegesellschaft. Ob für das, was danach kommt, ‘Wissensgesell- schaft’ ein intel- ligentes Wort ist, sei dahingestellt.

In dem Maße aber, wie die ausführenden Tätigkeiten auf elektronisch gesteuerte Maschinen übergehen, bleibt für das lebendige Arbeits- vermögen nur noch das spezifisch Menschliche zurück: die schiere Intelligenz, das Ausdenken selber. Nun aber für alle. Denn das Arbeitsmittel dafür heißt PC und Internet, und die stehen (pp) Jedem offen.

Das Management wird lean, die Wege werden kurz, die Hierarchien werden flach. Die Sonderstellung der Vermittler hat sich verüberflüssigt. Natürlich wissen sie das, dafür haben sie ein Gespür, wenn schon für sonst nichts. Mit Klauen und Nägeln krallen sie sich an ihre Besitzstände. Wo immer je etwas unternommen werden will, schieben sie ihre Bedenken ein und pochen auf ihre Regularien. An die Stelle des historischen Gegensatzes von Links und Rechts ist der Widerspruch zwischen den unternehmenden Ausdenkern und der würgenden Bürokratie getreten.

Hello world!

•January 12, 2009 • Leave a Comment

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